MITTWOCH, 11.55 UHR

Sie parkten auf der Straße vor dem gewaltigen Grundstück, hohe Tannen umschlossen die Villa, ein langer, gerader Weg führte direkt zu den Garagen, in die ein kleiner Fuhrpark passte. Ein hochherrschaftliches Anwesen, wie es sich nur ein sehr reicher Mensch leisten konnte. »Wie war die Kombination?«, fragte Henning. »Eins, neun, zwei, acht.«

Das Tor ging auf, sie fuhren hinein und hielten vor der breiten Garage. Sie gingen auf das Haus mit den heruntergelassenen Rollläden zu, wie bei Bruhns war die Haustür nur angelehnt.

Sie kamen in eine Diele und von dort in einen großen Vorraum, von dem aus eine Treppe in den ersten Stock führte.

Als Santos schnurstracks zur Treppe ging, fragte Henning: »Wollen wir uns nicht erst mal hier unten umschauen?«

»Der Anrufer hat gesagt, wir würden im ersten Stock das finden, wonach wir suchen.« »Hast du nicht erwähnt.«

»Entschuldigung, ich bin ziemlich durcheinander. Fällt dir was auf?«

»Meinst du die schwarzen Vorhänge? Ziemlich gruftig, oder was sagt man dazu?«

»Keine Ahnung, ist mir auch egal«, erwiderte sie ungehalten.

Im ersten Stock stand eine Tür halb offen. Santos betrat den Raum. Ihr stockte der Atem, und sie hielt sich die Hand vor den Mund, als müsste sie sich gleich übergeben.

Henning war am Eingang stehen geblieben. »Was ist das?«, stieß er entsetzt hervor und kam ein paar Schritte näher. Auf dem Marmorboden lag ein zusammengekrümmter Mann, dessen Oberkörper nur noch aus blutigem Fleisch und Hautfetzen bestand. Die Augen waren geweitet und starrten ins Leere. Ein tiefer Schnitt zog sich von einem Ohr zum anderen. Eine riesige Blutlache hatte sich um den Kopf gebildet, doch eine Menge Blut war in einem kleinen Abfluss, der sich etwa einen Meter vom Kopf des Toten entfernt befand, versickert. Rechts von ihm standen dreißig Stühle, davor ein dick-floriger weißer Flokatiteppich; erst jetzt registrierte Henning, dass das Licht brannte und alle drei Fenster vollständig abgedunkelt waren. Er kniff die Augen zusammen und sagte: »Ich gehe mal davon aus, dass das Klein ist.«

»Wer sonst? Aber warum hat man ihn so zugerichtet? Das sieht nicht gerade nach einem schnellen und schmerzlosen Tod aus«, bemerkte sie mit einer Portion Ironie, die verhinderte, dass das Bild, das sich ihr bot, sich zu sehr in ihrem Kopf einbrannte. Kühl und gelassen bleiben, dachte sie, ihr Magen hatte sich wieder beruhigt. »Der wurde lange gequält, bevor man ihm die Kehle durchgeschnitten hat. Er war noch nicht tot, nachdem man ihn gefoltert hat, sonst gäbe es nicht eine solche Blutlache, und wer weiß, wie viel dort abgeflossen ist«, meinte Henning und deutete auf den Abfluss. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten, als er noch gelebt hat, deshalb das viele Blut. Er ist förmlich ausgeblutet.« Ohne darauf einzugehen, sagte Santos: »Was haben er und Bruhns miteinander zu tun? Ein Spediteur und ein Musikproduzent. Der eine im Rampenlicht, der andere eher unauffällig, bis vor ein paar Stunden kannten wir nicht mal seinen Namen. Spedition Drexler, okay, die Aufschrift habe ich schon gesehen, aber Robert Klein sagt mir gar nichts. Dir?«

Henning schüttelte den Kopf. »Was hat er getan, dass man ihn so hat leiden lassen? Bei Bruhns Atropin und die seltsame Drapierung, hier brutalste Gewalt. Zwei völlig unterschiedliche Tötungsarten, und doch gibt es einen Zusammenhang. Aber welchen?«

»Ich weiß es auch nicht, aber wir haben einen Anrufer, der über alle drei Morde Bescheid weiß, also in irgendeiner Form involviert ist. Wo ist die Verbindung? Von Bruhns wissen wir, dass er pädophil war und sich gerne mit jungen Mädchen vergnügt hat. Von Klein wissen wir bis jetzt gar nichts, außer, dass er eine Spedition geleitet hat ...«

»Lisa, mir kommt da eben ein Gedanke. Spedition. Klingelt da was bei dir?«

Santos kniff die Augen zusammen und nickte. »Ich glaube schon. Du meinst, Klein könnte ein Menschenhändler gewesen sein? Mit dem nötigen Bakschisch kannst du doch alles kriegen und alles machen, selbst die größte Schweinerei ...«

»Nicht nur mit Schmiergeld, du musst auch die entsprechenden Beziehungen haben, die Logistik muss stimmen ...«

»Richtig. Beziehungen zu wem? Zoll? Polizei? Oder gar Verfassungsschutz?« Sie hielt inne, fasste sich an den Mund, ohne den Blick von dem Toten zu lassen, und fuhr fort: »Albertz hat uns nur einen Bruchteil von dem gesagt, was er weiß. Ruf die Spusi an, sofort. Und Klaus soll herkommen, nur Klaus. Ich will keinen anderen Rechtsmediziner hier sehen, schon gar keinen normalen Arzt.«

»Ich kümmere mich um die Spusi, du rufst Klaus an«, sagte Henning.

Santos wählte Jürgens' Nummer, es dauerte eine Weile, bis er abnahm. »Klaus, lass alles stehen und liegen und mach dich sofort auf den Weg nach Mönkeberg, hier ist die Adresse ...«

»Nicht so hastig, was soll ich da?«

»Wir haben Klein gefunden, wir nehmen es zumindest an. Beeil dich, wir erklären dir später, warum.«

»Ich bin in einer Viertelstunde bei euch. Falls ich ein Knöllchen krieg, übernehmt ihr das.«

»Mein Gott, ja, aber beeil dich.«

Jürgens traf tatsächlich als Erster am Tatort ein.

»Ups, da hat's einen aber schwer erwischt. Seid ihr sicher,

dass das Klein ist?«, fragte er.

»Sein Gesicht ist ja noch ziemlich gut zu erkennen«, antwortete Santos lakonisch.

»Warten wir, bis die Fotos im Kasten sind. Woher wusstet ihr, dass ihr ihn hier finden würdet?« »Intuition.«

»Aha. Wieso wolltet ihr ausgerechnet mich hier haben?« »Damit du uns in ein paar Stunden sagst, ob du etwas Bestimmtes an ihm gefunden hast«, sagte Santos, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wartete auf Jürgens' Reaktion.

»Ihr wollt mich also tatsächlich da mit reinziehen. Hätte ich mir denken können. Aber so einfach ist das nicht.« Er wollte noch etwas hinzufügen, als die drei Männer und zwei Frauen der Spurensicherung eintrafen. Er nahm Santos beiseite und flüsterte: »Glaub bloß nicht, dass ich wegen eurer Verrücktheit meine Karriere aufs Spiel setze und ...«

»Das verlangt keiner von dir, außerdem sind wir nicht verrückt. Verrückt ist, was hier abläuft. Sören und mir geht es ausschließlich um die Wahrheit, auch wenn sie vielleicht nie an die Öffentlichkeit gelangt. Wir wollen von dir nur wissen, ob auch an Klein die DNA ist. Wir erwarten nicht, dass du mit uns kooperierst, wir bitten dich lediglich, uns Ergebnisse durchzugeben. Ist das zu viel verlangt?«

»Ihr bekommt die Ergebnisse. Mehr aber auch nicht«, entgegnete Jürgens gereizt.

»Habe ich vielleicht mehr verlangt? Nun mal ganz ehrlich: Möchtest du nicht auch zu gerne wissen, was hier wirklich abläuft?«

Jürgens sah Santos in die Augen, als er fragte: »Gibt's hier einen Raum, wo wir beide, nur wir beide, uns ungestört unterhalten können?« »Mit Sicherheit. Komm.«

Sie gingen auf den Flur, Santos öffnete eine Tür und stand in einem großen Zimmer mit einem überdimensionalen Wasserbett und zwei schwarzen Nachtschränken, auf dem Sexspielzeug lag. Eine Liege aus Leder und verchromtem Stahl befand sich in einer Ecke, alles, was das SM-Herz begehrte, hing an der Wand: Ketten, Trichter, Handschellen unterschiedlichster Farben, Halskrausen aus Eisen, schwarze und rote Nietenmasken, die nur winzige Öffnungen für Augen, Nase und Mund hatten, Peitschen, Schlingen, ein Andreaskreuz, an dem lange Ketten hingen, Leder- und Stahlbesteck für die ausgefallensten Praktiken. Ansonsten gab es nur noch ein riesiges Bild an der Wand, das ein der Hölle entsprungenes Wesen zeigte. Der Boden bestand aus einem dunkelroten und schwarzen Gummibelag, die Beleuchtung aus unzähligen winzigen Lämpchen, die in die schwarze Decke eingelassen waren.

Jürgens ließ den Blick durch den Raum schweifen, sein Gesicht drückte all das aus, was er dachte. Santos beobachtete ihn und fühlte sich bestätigt. »Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass ich in einem SM-Zimmer bin, als Rechtsmediziner wohlgemerkt, aber so was habe ich noch nie gesehen«, sagte er leise, fast ehrfurchtsvoll, und doch mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Ich frage mich, was ein Wasserbett in einem SM-Studio zu suchen hat. Begreif ich nicht. Ich bin normalerweise vorsichtig mit dem Begriff pervers, aber das hier ist pervers.«

»Das ganze Haus ist irgendwie pervers. Nicht, dass ich was gegen SM habe, jeder soll tun und lassen können, was er oder sie will, aber ... Sind dir die schwarzen Vorhänge überall aufgefallen?«, fragte Santos. »Ich bin ja nicht blind. Ob die hier okkulte Spielchen abgehalten haben?«

»Woher soll ich das wissen? Auf jeden Fall ist dieses Haus unheimlich.«

»Okay, halten wir uns nicht weiter mit Spekulationen auf. Was willst du?«

Santos lachte leise auf und meinte geradeheraus: »Dass du nicht den Schwanz einziehst.«

»Du bist vielleicht lustig! Das hat nichts mit Schwanzeinziehen zu tun, sondern mit Eigenschutz. Soll ich mich gegen die Oberen wehren?« »Ja«, antwortete sie wie selbstverständlich. »Und meine Karriere aufs Spiel setzen?« »Sören und ich tun das auch.«

»Ihr seid Bullen, ich bin nur Rechtsmediziner. Wenn die mich auf dem Kieker haben, kann ich für den Rest meines Lebens einpacken. Ihr könnt euch immer noch als Kaufhausdetektive oder Privatschnüffler durchschlagen.«

»Siehst du Gespenster, oder war da schon mehr in den letzten Tagen? Wer sind >die<?«, fragte Santos mit einem Gesichtsausdruck, als stünde ihr ein völlig Fremder gegenüber.

»Was meinst du mit mehr?«, fragte er mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn du denkst, ich habe mich zulaufen lassen ...«

Santos winkte ab. »Jetzt fängst du aber total an zu spinnen. Mannomann! So was käme mir nicht mal im Traum in den Sinn, obwohl, dein Lieblingspub ist doch Murphy's ...« Sie grinste, und er konnte sich das Grinsen auch nicht verkneifen, wodurch sich die Situation von einer Sekunde zur anderen entspannte. »Aber Spaß beiseite, mit mehr meine ich, wirst du unter Druck gesetzt?« »Kein Kommentar, nur noch eins: Denk mal an Günter. Warum wohl hat er sich krankschreiben lassen? Er hat mir irgendwann erzählt, dass er in seiner gesamten Dienstzeit nicht einen einzigen Fehltag hatte. Jetzt auf einmal liegt er im Bett. Na ja, irgendwann erwischt es jeden. Lass mich drüben die Erstbeschau durchführen und ... Du bekommst Infos von mir, sobald ich Näheres weiß.« »Dass Günter nicht krank ist, weiß ich selbst. Wovor oder besser vor wem hast du Angst? Es kann doch nicht sein, dass du dich nur aus einer Vermutung heraus so verhältst. Sören und ich haben das Gefühl, dich überhaupt nicht zu kennen. Wer tritt dir auf die Füße? Oder wirst du gar bedroht?«

»Nein«, flüsterte Jürgens mit gesenktem Blick, doch es klang nicht sehr überzeugend.

»Ach ja? Wenn dir niemand auf die Füße tritt, dann kannst du ja auch ganz normal mit uns reden. So wie bis vor ein paar Tagen.«

Jürgens schüttelte den Kopf, den Mund abfällig heruntergezogen. »Du hast wirklich keine Ahnung, wovon du redest. Ich«, und dabei schlug er sich mit der Faust auf die Brust, »ich bin eine wandelnde Zielscheibe, und da draußen warten einige darauf, endlich auf mich schießen zu dürfen ...«

»Erzähl doch nicht so 'n Quark ...«

»Lisa, entweder du hältst jetzt sofort deine Klappe, oder ich werde nie wieder ein Wort mit dir wechseln. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Lass mich einfach nur ausreden.«

»Okay, okay, ich bin ja schon still.« Jürgens atmete einmal tief durch und sagte dann: »Nicht nur ich bin eine Zielscheibe, auch du und Sören seid eine, ihr habt's nur noch nicht kapiert, weil ihr auf Gedeih und Verderb einen Fall lösen wollt, der nicht zu lösen ist. Denn gewissen Leuten ist daran gelegen, dass er nie gelöst wird, zumindest nicht von euch. Die regeln so was auf ihre Weise, intern sozusagen.« Als Santos ihn unterbrechen wollte, hob er die Hand. »Nenn mich meinetwegen feige, vielleicht bin ich's ja.« Er zuckte die Schultern. »Weißt du, einige in meinem engeren Umfeld wissen, dass ich ein Zocker bin, ich gehe gern mal ins Kasino oder nehm an einer Pokerrunde teil, ist halt ein Laster, von dem ich nicht loskomme. Nur, ich kenne meine Grenzen und habe noch nie Schulden gemacht. Ich zocke zum Beispiel grundsätzlich nicht mit Leuten, von denen ich weiß, dass sie immer das Gewinnerblatt in der Hand halten. Genau das ist hier der Fall. Habe ich zwei Siebener, hat garantiert ein anderer drei. Habe ich ein Füll House, kommt der Gegner garantiert mit einem Royal Flush daher. Die Karten sind gezinkt, und am Ende schulde ich meinen Mitspielern einen Haufen Kohle, metaphorisch gesprochen. Und schon haben sie mich am Wickel.«

»Damit hast du meine Frage nicht beantwortet. Ich schwöre dir, ich werde nicht einmal mit Sören darüber reden, wenn du das nicht willst. Sag mir bitte: War jemand bei dir und hat dich unter Druck gesetzt? Oder hat dir jemand gedroht?«

Jürgens überlegte. »Ich wurde gewarnt und soll keinerlei Informationen über ungewöhnliche Obduktionsergebnisse bei Bruhns nach außen dringen lassen. Nach außen schließt auch dich und Sören ein. Er hat gesagt, manchmal passieren unerwartet ganz schlimme Dinge, und ich könne doch nicht wollen, dass mir ganz unerwartet etwas Schlimmes passiert. Das waren seine Worte.« »Aber warum? Hat er dich auf die DNA angesprochen?«

»Ich habe ihn gefragt, was er mit ungewöhnlichen Obduktionsergebnissen meint, worauf er geantwortet hat, es handele sich um den genetischen Fingerabdruck einer unbekannten weiblichen Person, die es nicht gibt und niemals geben wird. Dabei solle ich es bewenden lassen.«

»Aber wie können sie von der DNA bei Bruhns erfahren haben?«

»Ich bin das gedanklich mehrfach durchgegangen, und es gibt für mich nur eine Erklärung: Ich hab's in meinen Computer eingegeben, wie ich das mit allen Obduktionsergebnissen mache, und da hat sich wohl jemand in der Nacht oder am frühen Morgen in meinen Rechner eingeloggt, ohne dass ich es bemerkt habe. Bei Günter wird's genauso gewesen sein. Jetzt frage ich mich nur, wie lange ich schon überwacht werde oder ob es nur dieses eine Mal war, weil der Tote eben Bruhns heißt.« »Du hast doch gesagt, dass jemand gekommen sei, um deine Daten zu löschen.«

»Das war eine Notlüge. Die wissen genau, wie man droht und einschüchtert. Ich habe mir dann diese Story für euch einfallen lassen.«

»Darf ich fragen, wann der Kontakt zustande kam? Hast du die Person jemals zuvor gesehen?« »Es war niemand bei mir. Ich war auf dem Weg zur Arbeit, als ich angerufen wurde.« »Die Stimme, kam sie dir bekannt vor?« »Nein.«

»Könnte es Rüter gewesen sein?«

»Nein, seine Stimme ist unverwechselbar, den hätte ich sofort erkannt. Das einzig Auffällige war, dass er in der Wir-Form gesprochen hat, als stecke eine ganze Organisation dahinter. Hör zu, da kennt mich jemand verdammt gut, ich fühle mich seitdem beobachtet und kann nicht mehr klar denken. So, jetzt weißt du, was mit mir los ist. Und auch mit Günter. Auch er hat am Montag einen Anruf erhalten.«

»Das tut mir leid für euch. Sören und ich haben am Montagmorgen wirklich nur mit Volker darüber gesprochen, sonst mit niemandem. Und du mit Claudia. Hast du eine Vermutung, wer hinter dem Anruf stecken könnte?« Jürgens schüttelte den Kopf. »Wenn ich eine hätte, wäre mir wohler«, erwiderte er, doch es klang nicht sehr überzeugend. Santos wurde den Eindruck nicht los, als würde er immer noch etwas verschweigen. »Jetzt hast du schon so viel gesagt, dann kannst du auch den Rest rauslassen. Sind die Leute, von denen du sprichst, zufällig vom Verfassungsschutz, oder arbeiten sie im Innenministerium? War es ein anonymer Anruf?« Jürgens ließ einen Moment verstreichen, zeigte auf einmal wieder das Santos vertraute verschmitzte, jungenhafte Lächeln und meinte: »Ich sage weder ja noch nein, aber pass gut auf dich auf. Pass sehr gut auf dich auf. Sag das auch Sören, ihr bewegt euch nämlich auf dünnstem Eis. Ist das Antwort genug?«

»Ich denke schon. Ich begreife nur nicht, warum die bis jetzt nicht bei uns waren. Hast du eine Erklärung?« »Was nicht ist, kann ja noch werden. Außerdem, habt ihr mir nicht erzählt, dass auch ihr am Sonntag angerufen wurdet?«, entgegnete Jürgens.

»Nicht nur am Sonntag«, antwortete Santos nachdenklich. »Aber das war etwas völlig anderes. Das war keine Warnung, er hat uns nur Hinweise gegeben, als wäre er an der Tat beteiligt gewesen. Zumindest verfügte er über detailliertes Hintergrundwissen. Lassen wir uns überraschen. In seinem letzten Anruf hat er uns auf diese Villa hingewiesen und uns den Code für das Tor durchgegeben. Vielleicht ist es tatsächlich der Täter.« »Gehen wir wieder rüber, sonst kommen die noch auf dumme Gedanken.«

Bevor sie den Raum verließen, hielt Jürgens sie noch mal zurück: »Eins habe ich vergessen: Trau keinem, nicht mal deinem besten Freund, Sören natürlich ausgenommen. Mag sein, dass ich zu viele Spionage- und Verschwörungsthriller gesehen habe, aber ...« »Wir passen auf«, sagte Santos und dachte an Albertz, aber auch an Harms und einige andere. Vor allem Albertz war ihr nicht geheuer, sie vermochte ihn nicht einzuschätzen, war nach wie vor irritiert von seinem gestrigen Auftreten, seiner Lüge über seine vermeintliche Krankheit. Aber er hatte einen Namen genannt - Bernhard Freier. Er hatte gesagt, dass sie und Henning sich mit den Frankfurter Kollegen vom K 11 in Verbindung setzen sollten.

Noch war völlig unklar, welche Rolle Albertz zukam, ob seine angebotene Hilfe ehrlich gemeint oder er nur ein Blender und Täuscher war, ein gewiefter alter Fuchs vom Verfassungsschutz, der alle Tricks des schmutzigen Geschäfts beherrschte. In jedem Fall würden sie diesen Bernhard Freier ausfindig zu machen versuchen und sich einen Plan zurechtlegen, wie sie am besten an ihn herankommen konnten.

Das, was sie von Jürgens erfahren hatte, erinnerte wirklich stark an einen Agententhriller, wobei ihr unklar war, welche Rolle ihr und Sören in diesem undurchsichtigen, perfiden Spiel zukam.

 

Der Fotograf hatte seine Arbeit beendet, Bilder des Toten aus allen Blickwinkeln gemacht, den gesamten Raum fotografiert und mit der Videokamera aufgenommen, und bedeutete Jürgens mit einer Handbewegung, dass er mit der Erstbeschau beginnen könne.

Jürgens ging in die Hocke, öffnete seinen Koffer, zog die Latexhandschuhe an und begann, den Toten zu untersuchen. Er prüfte die Beweglichkeit der Gelenke, die komplett versteift waren, und maß mit einem Spezialthermometer die Lebertemperatur. »Die Totenstarre ist komplett eingetreten, gemäß der Lebertemperatur dürfte er zwischen zwölf und vierzehn Stunden tot sein. Die Totenflecke sind nicht mehr wegdrückbar. Genaueres wie immer nach der Obduktion. Der Mann ist über einen längeren Zeitraum hinweg gefoltert worden, beide Tatwerkzeuge liegen neben ihm, ein Nietengürtel und ein ...« Er holte ein Maßband aus dem Koffer und fuhr fort: »Fünfundzwanzig Zentimeter langes Tranchiermesser, vermutlich japanischer Herkunft. Todesursache Verbluten durch Schnitt in den Hals mit Durchtrennung der Carotis sowohl links als auch rechts.«

»Hat da jemand seiner Wut freien Lauf gelassen?«, fragte Maren Peters von der Spurensicherung. »Sieht ganz danach aus.« Jürgens wandte sich an Henning und Santos: »Ihr kriegt das Ergebnis so schnell wie möglich, aber erwartet keine Wunder, ich habe noch zwei weitere Leichen auf dem Tisch. Wir werden Überstunden schieben müssen, es sei denn ...« »Was?«

»Nichts, habe nur laut gedacht. Er kann abtransportiert werden.«

Jürgens zog die Handschuhe aus, schloss den Koffer und erhob sich. »Kann ich dich noch mal kurz unter vier Augen sprechen?«, fragte er Santos.

»Klar, ich begleite dich nach unten, brauch sowieso frische Luft.«

Vor der Tür sagte Jürgens: »Ich werde mein Bestes tun, ich hoffe nur, mir wird nicht wieder ein Kollege aus Lübeck vor die Nase gesetzt. Das wollte ich nur gesagt haben.«

Santos wollte etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. »Ja?«

»Sie haben ihn gefunden?«

»Sie schon wieder. Haben Sie mit seinem Tod zu tun?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie sollten nur eins wissen - er hat den Tod verdient.«

»Ach ja? Dann werden Sie mir sicherlich auch verraten, warum.«

»Muss ich das? Sie wissen doch inzwischen längst, was Bruhns getrieben hat. Klein war noch schlimmer, viel schlimmer.«

»Was hat er getan?«

»Das erzähl ich Ihnen ein andermal. Machen Sie's gut, ich melde mich bei Gelegenheit wieder.«

Damit legte der Anrufer auf, Santos sah Jürgens an. »Wer war das?«, fragte er.

»Der, der uns zu Bruhns und hierhergeschickt hat. Ich nehme an, er hat die Morde begangen. Er hat gesagt, dass Klein noch schlimmer als Bruhns gewesen sei.« »Wieso? Was hat Bruhns denn Schlimmes verbrochen?« »Kinder.« »Was Kinder?«

»Was wohl? Stell doch nicht solche Fragen, wenn du die Antwort ohnehin schon kennst.« »Er hat Kinder missbraucht?«

»Ja, verdammt noch mal! Alles deutet darauf hin. Es ist sogar möglich, dass er ein kleines Mädchen umgebracht hat. Du hast sie vor einem Jahr auf deinen Tisch bekommen, die unbekannte Tote mit ...«

»Den Brandwunden, den Hämatomen und den Knochenbrüchen?«

»Ja. Aber dass Bruhns etwas mit ihrem Tod zu tun hat, ist noch nicht erwiesen und schon gar nicht spruchreif.« »Habt ihr inzwischen einen Namen von der Kleinen?« »Angeblich heißt sie Nele, einen Nachnamen haben wir nicht. Wenn sie aus Osteuropa stammt, werden wir das ohnehin niemals herausfinden. Aber das sind Informationen, die bis jetzt nur Sören und ich haben, nur damit du Bescheid weißt.«

»Vertrauen gegen Vertrauen. Ich widme mich jetzt denen, die mir keine Fragen stellen, sondern nur zuhören. Ich melde mich. Ciao.« Er war bereits am Gehen, als er noch einmal innehielt: »Nele ist ein für Osteuropa untypischer Name. Vielleicht Nela, oder man hat ihr hier diesen Namen verpasst. Aber das ist ja im Prinzip auch egal, wir werden sowieso nie erfahren, wer sie wirklich war, wo sie herkam, wer ihre Eltern sind, ihre Geschwister. Ihr habt echt einen Scheißjob. Genau wie ich. Jetzt bin ich aber endgültig weg.«

Santos sah ihm nach, bis er durch das Tor getreten war, und ging wieder ins Haus. Sie hörte, wie Henning sich oben mit den Kollegen der Spurensicherung unterhielt, und beschloss, hier unten zu warten, denn sie hatte keine Lust mehr auf Gerede. Sie setzte sich auf die Treppe, den Kopf in die Hände gestützt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Für einen Augenblick meinte sie, die ganze Last dieser Welt auf ihren Schultern zu tragen, und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sie jemals beschlossen hatte, diesen Beruf zu ergreifen, einen Beruf, der sie aufzufressen schien.

Seit Sonntag ergab praktisch nichts einen Sinn: der Tod von Bruhns und seiner jungen Geliebten, der Tod von Weidrich und der Tod von Klein. Sechs Tote innerhalb von vier Tagen. Wo ist der Zusammenhang?, dachte sie und schloss die Augen. Wo ist der verdammte Zusammenhang? Warum dürfen wir nicht einfach auf ganz normalem Weg ermitteln? Warum wurde eine Informationssperre verhängt, und warum wurde ein unschuldiger Mann von Kollegen aus dem LKA umgebracht, um ihn als Mörder von Bruhns auszugeben? Bruhns war tot, der Täter war bei einem Schusswechsel umgekommen. Die perfekte Story für die Medien und die Öffentlichkeit. Was steckt wirklich hinter all diesen Morden? Welche Rolle kam Kerstin Steinbauer zu? Und, noch wichtiger, welche Rolle spielt Albertz? Haben sie ihn auf uns angesetzt? Ist das der Grund, weshalb wir bis jetzt keine Drohungen erhalten haben?

Verflucht, das ist ein einziges Durcheinander: ein Auftragskiller, ein Mann vom Verfassungsschutz, der uns angeblich was Gutes tun will... Wir sollen uns mit den Kollegen in Frankfurt in Verbindung setzen, hat er gesagt. Er würde uns doch nicht einen solchen Tipp geben, wenn da nichts dran wäre. Oder? Nein, auch wenn ich Albertz noch nicht einschätzen kann, er hat uns zu viele Informationen gegeben. Ob er es wirklich ernst meint, wird sich spätestens dann herausstellen, wenn er uns Näheres zu diesem Bernhard Freier sagt.

Wir müssten die Spedition unter die Lupe nehmen, denn sollte Klein tatsächlich in Menschenhandel verwickelt gewesen sein ... Jeder Fahrer müsste befragt werden, und zwar einzeln. Wir müssten eine Großrazzia durchführen, dafür brauchten wir aber Rüters Segen. Wir müssten, wir müssten, wir müssten! Shit! Wir müssten, aber wir können nicht. Und wo sollten wir anfangen? Ariadnefaden, was für ein Vergleich!

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie Henning nicht hatte kommen hören.

»Was machst du denn hier auf der Treppe?« Sie schreckte hoch. »Nachdenken.« »Mit Erfolg?«

»Nee, Fragen über Fragen. Können wir?«

»Was habt ihr denn so Geheimnisvolles zu besprechen gehabt?«

»Erzähl ich dir im Auto. Unser Unbekannter hat sich eben wieder gemeldet, er hat gefragt, ob wir Klein gefunden haben.«

»Haben wir. Und nun?«

»Wir rufen in Frankfurt an. Sag mal, ist dir eigentlich klar, an wie vielen Fronten wir gleichzeitig kämpfen? Wir haben es mit einem Auftragskiller zu tun, der womöglich identisch mit dem anonymen Anrufer ist, mit dem Verfassungsschutz, mit Friedmann und Müller vom LKA, mit Rüter ... Mehr fällt mir im Augenblick nicht ein.«

»Lisa, wir sollten nicht kämpfen, denn das können wir nicht. Aber wir können versuchen, die Strukturen zu verstehen, und dann eventuell handeln. Ich will nicht kämpfen, nur begreifen, worum es geht.« »Das genügt mir nicht. Ich bin nicht bereit zu akzeptieren, dass wir so machtlos sind. Lass es uns versuchen, auch wenn es noch so aussichtslos erscheint. Ich werde mich nicht bedingungslos unterwerfen und einfach hinnehmen, dass zwei unserer werten Kollegen eiskalte Killer sind. Nein, Sören, nicht mit mir. Meine Hoffnung ist Albertz .«

»Die Büchse der Pandora«, murmelte Henning. »Was meinst du?«

»Als sie geöffnet wurde, kam alles Unheil dieser Welt heraus, nur eins blieb - die Hoffnung. Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht.« »Wir.« »Okay, wir.«

Auf der Fahrt nach Kiel berichtete Santos von ihrem Gespräch mit Jürgens. Henning hörte aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie geendet hatte, sagte er leise: »Na endlich, jetzt kann ich ihn wenigstens verstehen.« Er straffte sich. »Also gut, dann lass uns den Kampf aufnehmen, vielleicht schließen sich uns ja noch andere an.«

Auf dem Weg ins Präsidium aßen sie eine Kleinigkeit. Harms' Büro war verwaist, ein Kollege teilte ihnen mit, er habe einen Termin mit einem Staatsanwalt, mit welchem, konnte er nicht sagen.

»Schon wieder?«, fragte Santos Henning, als sie allein waren. »Was will Rüter andauernd von ihm?« »Ist mir egal. Wer ruft in Frankfurt an, du oder ich?« »Ich mach das.«

Sie begann, die Nummer zu wählen, als Henning ihr den Hörer aus der Hand nahm.

»Nicht von hier«, sagte er mit vielsagendem Blick. »Schon verstanden. Von wo?«

»Noll, unser Computerfreak«, grinste Henning. »Wir wollen doch nicht, dass jemand mithört.« »Du hast recht.«

 

Eisige Naehe
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